Nancy Williams im Interview über John Williams

Mit ›Nichts als die Nacht‹ ist gerade der erste Roman von John Williams erschienen, der seit der Wiederentdeckung von ›Stoner‹ posthum die Bestsellerlisten der Welt erobert. Lektorin Patricia Reimann hat seine Witwe Nancy Williams in Colorado besucht und mit ihr über John Williams gesprochen.
Nancy Williams und Zitat ihres Mannes John Williams: Er tat, was er tun wollte
Ich hielt es nämlich noch nie für angebracht, jemanden in mein Herz blicken zu lassen.

John Williams, ›Augustus‹

Nancy Gardner Williams, die Witwe von John Williams, lebt in einem kleinen Bungalow am Rande der Wüste, in Pueblo, Colorado, einer ehemaligen Stahlindustriestadt unweit der Rocky Mountains. Sie ist freundlich-zurückhaltend, eine große Frau, aufrechte Haltung, der Blick aufmerksam und abwartend. Sie macht nicht viele Worte, weder jetzt noch später, aber – das teilt sich auf Anhieb mit – gewiss war sie eine Partnerin auf Augenhöhe. »Kein Firlefanz, kein Gepolter, kein Pomp«, wie Dan Wakefield einst über John Williams befand – das trifft auch auf sie zu. Nancy Williams studierte an der University of Denver bei John Williams Englische Literaturwissenschaft.

Sie haben John in Denver kennengelernt, Mrs. Williams, das war 1959. Er war Ihr Professor. Wie wirkte er?

Sein Markenzeichen waren der Krawattenschal und die Zigarette, das waren äußerlich seine auffälligsten Merkmale. Er rauchte auch während des Unterrichts. Und ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals ohne Krawattenschal in einen Kurs kam. Er war ein guter Lehrer, er beherrschte seinen Stoff. (Lacht)

Was gefiel Ihnen so an ihm, dass sie sich in ihn verliebt haben – wenn diese Frage nicht zu persönlich ist?

Er war es, der sich verliebt hat (lacht). - Er konnte gut kochen. Als wir uns kennenlernten, hatte er eine kleine Wohnung, aber kein Geld, mit mir auszugehen, und so kochte er für mich und ich war einfach ... Er umwarb mich lange, es gab einiges zu klären. Er brauchte lange, fast ein ganzes Jahr, bis ich mit ihm ins Bett ging.

Sie waren eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern ...

Ja, und als wir dann ein Paar waren, hätte ich so gern ein Kind von ihm gehabt. Es brach mir das Herz, es war einfach furchtbar, aber mir war klar, dass ich ihm das nicht antun konnte. Ich konnte ihm nicht noch ein weiteres Kind aufbürden, ich hatte schon Kinder und er ebenso. Er wusste, was ich durchmachte, und so erfand er ein Baby für mich. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, dass er in der Küche meiner Mutter am Bügeltisch stand, die Ellbogen aufgestützt, und mir von unserem kleinen Jungen erzählte. Nicht einmal der Name des Babys ist mir in Erinnerung. Eine Zeitlang lang kam er jede Woche an ein paar Abenden vorbei und erzählte mir die Geschichte von unserem Kind. Ich weiß nur noch, dass das Baby perfekt war. John hatte kurze Arme, meine sind sehr lang, und die des kleinen Jungen hatten genau die richtige Länge. Und nach ein paar Wochen musste ich lachen und war über meinen Kummer hinweg.

Er arbeitete damals an der Uni. Wie können wir uns sein Büro vorstellen?

Überall lagen stapelweise Bücher, auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden. Sein Arbeitszimmer zuhause sah nicht ganz so schlimm aus. Ich nehme an, das war meinem Einfluss zu verdanken. Er hob alles auf, wirklich alles. Wenn im Fernsehen etwas Interessantes lief, ging ich manchmal an seinen Kleiderschrank, holte ein Hemd heraus und fragte, du hast doch nichts dagegen, wenn ich dieses alte Stück hier entsorge, oder? Er war mit seinen Gedanken woanders, und so habe ich hin und wieder seinen Kleiderschrank entrümpelt. Er legte großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung.

Er entstammte einer armen Familie ...

Ja. Sie waren arm. Seine Mutter war nicht berufstätig. Sie las gerne wahre Liebesgeschichten. Als er zwölf war, hatte er einen Aushilfsjob in der Buchhandlung am Ort, und der Besitzer förderte ihn.

Wann kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, Schriftsteller zu werden, wissen Sie das?

Nein, aber mit achtzehn Jahren schrieb er bereits an einem Roman.

Erzählte er von seiner Kindheit?

Nicht sehr viel. – Er muss eigenwillig gewesen sein, ließ sich nichts sagen. Einmal haben ihm seine Eltern verboten, mit anderen Scouts auf einen Campingtrip zu gehen, weil sie meinten, dafür sei er noch zu jung, aber er setzte sich ungerührt darüber hinweg und marschierte durch die Tür zu den Boy Scouts. Da war er fünf oder sechs Jahre alt.

Es heißt, sein Vater wurde ermordet ...

Nun, es wäre interessant zu erfahren, ob das wirklich stimmt. Anscheinend hatte der Vater in einem Laden erzählt, er habe Geld dabei. Anschließend nahm er einen Unbekannten in seinem Auto mit. Und dann verschwand er spurlos, aber sein Auto wurde ein paar Meilen weiter an der Straße gefunden. Ich habe mich immer gefragt: Wenn der Typ ihn tatsächlich umgebracht hat, wieso hat er nicht das Auto gestohlen? Ich weiß nicht, ob John diese Geschichte glaubte, aber ich habe meine Zweifel. Ich denke eher, sein Vater hat sich aus dem Staub gemacht ... 

John war unabhängig und hart im Nehmen. Er liebte seine Mutter sehr, die wieder heiratete. Zu seinem Stiefvater blieb er glaube ich auf Distanz, er sprach nur selten von ihm. Eigentlich erzählte er überhaupt wenig über diese Zeit, und ich fragte ihn auch nicht danach. Manchmal bekam er mit, wie seine Mutter weinte, aber die Zeiten waren damals hart. Mein Gott, man kann sich das kaum vorstellen, was es bedeutet, sich darum sorgen zu müssen, dass man genug Geld fürs Essen verdient. Sie bestellten ihr Land, und hatten damit etwas auf dem Tisch. John hat mir die Farm später einmal gezeigt ... wir schauten sie uns an, alles war sehr klein, ein kleines Haus und wenig Land.

Wie kam es, dass John studieren konnte?

Eigentlich hätte er nicht studieren können, dazu fehlte das Geld. Aber wer im Zweiten Weltkrieg als Soldat gedient hatte, erhielt vom Staat die Möglichkeit zu studieren. Der Staat zahlte. Für ihn war das ein großes Glück. 

Der erste Roman, mit dem er als Schriftsteller wahrgenommen wurde, war ›Butcher´s Crossing‹. Die Schauplätze seiner Romane unterscheiden sich stark, und auch die Genres. Butcher’s Crossing ist vom Lebensumfeld eines jungen Universitätsprofessors, der er damals war, sehr weit weg. Warum schrieb er ausgerechnet einen Western? 

Nun, er lebte im Westen. Die Berge, die Flüsse, die ganze Landschaft waren für ihn greifbar. Und als er an ›Butcher´s Crossing‹ schrieb, zog er einfach mit einem Zelt los, in die Wälder, in die Berge. Ich glaube, er lag innerlich im Clinch mit Emerson, der die Natur für gütig hielt. … Ich glaube nicht, dass ›Butcher´s Crossing‹ autobiographisch ist, aber da steckt viel von seiner eigenen Erfahrung drin. Das Töten, das immer weiter geht.

In Analogie zum Krieg?

Ja, ich glaube schon.

Was machte er während des Krieges?

Er hatte eine wunderbare Stimme. Während seiner High-School-Zeit hatte er einen Job als Radioansager, und als er sich zur Air Force gemeldet hatte, bekam er eine Ausbildung als Funker und war dann Bordfunker auf der C45, einem Transport- und Aufklärungsflugzeug. In China, Burma und Indien. Er wurde abgeschossen. Das Flugzeug flog in sehr geringer Höhe und wurde von den Japanern vom Boden mit einem Granatwerfer beschossen und getroffen. Der Flieger streifte die Baumspitzen und stürzte ab. – John fand sich außerhalb des Flugzeugs auf dem Boden sitzend wieder, er hatte keine Ahnung, ob er den Schleudersitz betätigt hatte oder hinauskatapultiert worden war. Er und zwei andere, die vorne gesessen hatten, überlebten den Absturz, die fünf Männer im Heck starben. Das hat ihn sein Leben lang verfolgt – wie konnte es sein, dass er weiterlebte und die anderen tot waren? Zu Anfang unserer Beziehung, immerhin fünfzehn Jahre nach Kriegsende, hatte er Albträume und Malariaschübe. Die Albträume wurden mit der Zeit seltener, aber sie gingen nie ganz weg... es hörte nie mehr auf, zweieinhalb Jahre Töten, nichts als Töten, es hörte nie mehr auf.

Ist das eine Erklärung für die tiefe Einsamkeit seiner Hauptfiguren?

John war ein recht geselliger Mensch. Ein Künstler wandelt Erfahrung irgendwie um, wie das geht, das weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass er einsam war. Er hatte viele Freunde, ich weiß nicht recht...

Waren der Schriftsteller, mit dem Sie lebten, und der Mann, mit dem Sie lebten, zwei unterschiedliche Menschen?

Nein, ganz und gar nicht.

Hat er Sie in seine schriftstellerische Arbeit einbezogen?

Nein, das hätte ich auch nicht gewollt. Ich wollte mich da nicht einmischen. Was hätte ich ihm zu seinem Schreiben sagen sollen? Was? Nur einmal kam er mit dem Schluss von ›Augustus‹ nach unten, und ich sagte, das ist zu lang geworden, du musst eher aufhören, aber das war das Einzige, was ich ihm jemals zu seiner Arbeit gesagt habe.

Und ist er Ihrem Vorschlag gefolgt?

Ja. 

Schrieb er jeden Tag?

Wenn er konnte, schrieb er. Aber nur während der Sommermonate, wenn er nicht unterrichtete. Er ging sehr methodisch und sorgfältig vor und plante seine Arbeit minutiös, weil er hinterher nichts mehr überarbeiten wollte. Er begann sehr früh morgens, gegen halb acht, acht Uhr, manchmal trank er vorher noch einen Kaffee, auf Frühstück legte er keinen großen Wert. Dann ging er hoch in sein Arbeitszimmer und blieb bis Mittag verschwunden. Hin und wieder sah ich ihn in seinem Gemüsegarten, wie ein Farmer – er liebte seinen Garten –, und dann wusste ich, er kam gerade nicht weiter und musste sich auf andere Gedanken bringen. Irgendwann ging er dann wieder nach oben und schrieb weiter. Mittags kam er zum Essen herunter – wir aßen oft gemeinsam – und dann ging er vielleicht zur Uni, um sich seine Post zu holen oder weil er eine Verabredung hatte, und den Nachmittag verbrachte er wieder oben an seinem Schreibtisch. Nur zwei oder drei Stunden lang, in denen er die Arbeit für den nächsten Tag plante. So wusste er immer, was am nächsten Tag vor ihm lag.

Mögen Sie einen seiner Romane besonders?

Ich weiß nicht, ich liebe sie alle.

Erkennen Sie ihn in einer seiner Romanfiguren wieder?

›Augustus‹ sei autobiographisch, pflegte er zu sagen. Er meinte damit, dass er auch alles gern unter Kontrolle hatte (lacht) … Nein, ich erkenne ihn nicht wieder.

Augustus ist vielleicht die komplexeste seiner Romanfiguren. Er spielte vielerlei Rollen in seinem Leben, unter anderem war Augustus ein liebender Vater. Wie übrigens auch Stoner. 

Da haben Sie Recht. Das war zweifellos ein wesentlicher Teil auch von Johns Leben.

Was für ein Vater war er?

Schwer zu sagen. Seine Kinder waren älter als meine und besuchten uns erst, als sie herangewachsen waren. Ich habe sie auch erst da kennengelernt. Er war ein fürsorglicher Vater. Er hätte an die Ostküste ziehen können, wo sich das literarische Leben abspielte, aber er wollte die Kinder nicht zurücklassen. Er blieb bei ihnen, mehr kann ich dazu nicht sagen. Und seine Kinder schienen ihn zu mögen ... Was ich sagen will … Vaterliebe war für ihn etwas Selbstverständliches. Aber er hat sich zu diesem Part seines Lebens kaum geäußert.

Er war der Stiefvater ihrer Kinder, vielleicht auch keine einfache Aufgabe?

Na ja, ich weiß nicht. Er arbeitete mit ihnen im Garten, er ließ sie tatsächlich in seinen geliebten Garten und brachte ihnen so manches bei, aber ich kann nicht sagen, wie eng ihre Beziehung zueinander war. Sie kamen ganz gut miteinander aus, doch ob er ihnen damals sehr nahestand? Später war das dann anders, da hatte er eine enge Beziehung zu ihnen. Ich spielte im Leben seiner Kinder keine Rolle, und er spielte im Leben von meinen eine gewisse Rolle, aber das ist nicht ganz das Gleiche wie der Vater zu sein.

In seinem Debüt ›Nichts als die Nacht‹ geht es um einen jungen Mann, der seinem Vater entfremdet ist und ein Kindheitstrauma mit sich herumträgt. Der Roman hat mich tief beeindruckt, man spürt eine solche Dringlichkeit des Erzählens, so viel Talent , so viel Kraft dahinter, und da ist die Energie eines Menschen, der durchs Feuer gegangen ist. Unglaublich, dass er den Text während seines Kriegseinsatzes in Burma verfasste, damals war er erst zweiundzwanzig.

Ja.

Warum hat John sich später von diesem Buch distanziert?

Das weiß ich nicht. Ich wünschte, ich hätte es vor Ihrem Besuch noch einmal gelesen. Er arbeitete daran, während er sich von dem Flugzeugabsturz erholte. Er wurde von Einsätzen freigestellt, das war die Regel – bei Verletzungen wurde man freigestellt. Gott weiß woher er das Papier zum Schreiben hatte. Stellen Sie sich vor, er sitzt in einem Zelt und ein paar Mal am Tag kommt ihn eine zutrauliche Manguste besuchen. Ein paar Zelte in einer Dschungellichtung, sonst gibt es dort nichts, kein Kino, kein Radio, keine Bibliothek, nichts gibt es da, und er sitzt mitten in diesem Nichts auf einer Dschungellichtung und schreibt. Er schreibt, unter anderem, um nicht vor Langeweile umzukommen.

Als er sich wieder erholt hatte, meldete er sich freiwillig, um von einem Piloten, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, die Hundemarke zu holen, wie er das nannte. Ohne die Hundemarke hätte seine Familie nie erfahren, dass ihm etwas zugestoßen war. Und so bahnten er und zwei andere sich einen Weg durch den Dschungel, abenteuerlich war das. Er musste sich irgendwie beschäftigen, also schrieb er einen Roman und holte die Hundemarke des Piloten.

In jedem seiner Romane geht Williams existenziellen Fragen auf den Grund. In ›Nichts als die Nacht‹ geht es um Schuld, Scham und Begehren, in ›Butcher´s Crossing‹ um die Suche nach Wahrheit in der Natur, ums Töten und um die Gier des Menschen. In ›Stoner‹ um die Verbindung von Kunst und Leben, der Roman ›Augustus‹ beschäftigt sich mit Schicksal und Macht ...

Das stimmt, auch wenn es darum nicht primär geht. Was ihm am Herzen lag, war etwas anderes. Er erforschte die Beziehungen zwischen Menschen, angefangen bei seiner Mutter, die er über alles liebte, über Freunde, Feinde, Eheleute, Kinder und so weiter, bis hin zur Außenwelt, einem Weltreich. An erster Stelle stehen immer die Menschen, und daraus ergeben sich dann tiefe philosophische Fragestellungen, aber im Zentrum stehen die Figuren. Das Philosophische allein wäre ihm viel zu allgemein gewesen. Ich nehme an, eine Romanfigur war für ihn ein Mensch wie jeder andere. Und ihn interessierten diese Romanfiguren und wie sie sich unter bestimmten Umständen verhalten. Aber ich glaube nicht, dass sie für ihn ein Mittel waren, um Lebensweisheiten zu entdecken. Zu allererst geht es ihm um den Menschen.

Der enorme Erfolg kam erst viele Jahre nach seinem Tod – wie waren die Reaktionen auf ›Butcher´s Crossing‹ und ›Stoner‹ damals bei der Erstveröffentlichung?

Nun, die Menschen, die ihm wichtig waren, bewunderten ihn, Freunde, die er seinerseits bewunderte, ein weiter Freundeskreis. Schriftstellerkollegen hielten viel von ihm, deswegen blieben die Romane auch so lange auf dem Markt.

1973 erhielt John Williams für ›Augustus‹ den National Book Award, den er sich mit John Barth teilen musste und damit auch das Preisgeld, es war ohnehin nicht viel. Er soll gesagt haben, »das ist mir egal, ich habe niemals erwartet, mit meinem Schreiben Geld zu verdienen«. Wie kam er zu dieser Haltung?

Durch die Weltwirtschaftskrise. Ohne Geld muss man sich sein Leben irgendwie aufbauen. Er soll gesagt haben, es sei ihm unwichtig, ob eintausend oder einhunderttausend Menschen seine Romane lesen ...Oh, ja. Er war wirklich unabhängig und er war eigensinnig. Er beschäftigte sich vor allem mit Dingen, die ihm Spaß machten, vor allem damit, seinen Garten umzugraben.

Und Romane zu schreiben.

Und Romane zu schreiben. Ich glaube, auch das Lehren machte ihm Spaß, mit einigen seiner Studenten, die bei ihm seinen Abschluss machten, blieb er befreundet. Er mochte Menschen und verbrachte gern Zeit mit Freunden, wir schauten uns gemeinsam Football an. – John war ein Eigenbrötler, aber wir hatten eine wirklich gute Beziehung. Er war rücksichtsvoll. Er ging seinen Weg, aber eigentlich ist das ja genau richtig.

Was hätte der Erfolg ihm bedeutet, wäre er noch am Leben?

Er hätte sich gefreut. Er besaß ein sehr gesundes Ego, und damit meine ich nicht Eitelkeit. Es würde ihm gut gehen, ob mit oder ohne Anerkennung. Er lebte auf eine gute Weise in den Tag hinein. Es bereitete ihm kein Kopfzerbrechen, ob man ihn anerkannte oder nicht. Er war den Leuten nah, die sein Werk bewunderten, sie bedeuteten ihm viel. Aber, wissen Sie, er war kein anspruchsvoller Mensch, er brauchte nicht viel. Alles, was er brauchte, war ein Häuschen, dort fühlte er sich wohl, in einem kleinen winzigen Haus.

Lassen Sie uns über die Frauenfiguren in seinen Romanen sprechen.

Ich hätte mich besser auf Sie vorbereiten und die Romane noch einmal lesen sollen.

Die Frauen sind komplexe, aber auch schwer zu greifende Charaktere. Auf Livia und Julia in ›Augustus‹ trifft das vielleicht weniger zu, aber ich denke etwa an Francine, die Hure aus ›Butcher´s Crossing‹, die so mütterlich und mitfühlend, so großzügig und freundlich ist, und dabei erotisch anziehend. Und im Gegensatz dazu Edith aus dem Roman ›Stoner‹, diese zutiefst gestörte und hysterische Egozentrikerin. Unterschiedlicher könnten diese Frauenfiguren kaum sein. 

Ich denke, es gab Vorbilder, ja. Aber das bedeutet nicht, dass er bestimmte reale Frauen im Kopf hatte. Die Figuren erfüllen innerhalb des Romans bestimmte Zwecke, und dafür sind sie geschaffen. Mit Sicherheit spielt seine Mutter in diesem Zusammenhang eine Rolle, sie stand ihm sehr nah. Und dann vielleicht noch die Mutter seiner Kinder, ich bin aber nicht sicher, ob das stimmt, ich habe sie nicht kennengelernt. Er wollte mich mit diesem Teil seines Lebens nicht belasten. 

Er war vier Mal verheiratet …

Ja, er heiratete bevor er zum Militär ging, er und seine Frau waren beide noch sehr jung. Und nach etwas mehr als einem Jahr – er war damals in China, Burma und Indien – schrieb sie ihm, dass sie nicht länger seine Frau sein wolle. Es gab da irgendein Gesetz, nach dem sie sich nicht von ihm scheiden lassen konnte. Aber er war weit weg, und was sie anging, war die Beziehung beendet. Na ja, sie waren beide noch so jung, vielleicht neunzehn. John erzählte, es habe ihm ein paar Wochen lang das Herz gebrochen, aber diese Art von Brief war damals beim Militär dermaßen üblich, dass es sogar einen Begriff dafür gab: ein Dear-John-Brief, sie hatte ihm einen Abschiedsbrief geschrieben, der wie so viele andere mit Dear John begann. Bevor die jungen Männer in den Krieg gezogen waren, hatten sie noch schnell ihre High-School-Liebe geheiratet, und dann schifften sie sich ein und waren weg. Was ihm passierte, war also nicht ungewöhnlich. 

Seine zweite Frau heiratete er kurz nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war. Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen, aber er sagte, diese Ehe sei als einzige allein sein Fehler gewesen. Er sei nicht in der Verfassung gewesen, eine Ehe einzugehen, er kam mit dem Zusammenleben nicht zurecht, war noch zu aufgewühlt vom Krieg. Und damit war er eigentlich nur zweimal richtig verheiratet. 

Sein Fehler? Was meinte er damit?

Er meinte damit, dass er vom Krieg psychisch schwer geschädigt war, er hatte Albträume...

Und er machte sich für das Scheitern der Ehe verantwortlich?

Ja.

Auch die dritte Ehe mit der Mutter seiner Kinder ging auseinander.

Ja, das stimmt. Aber er hat sich erst von ihr scheiden lassen, als wir bereits seit zehn Jahren zusammen waren. Sie ließen sich einfach nicht scheiden.

Fühlte er sich so sehr für sie verantwortlich?

Oh, ja. Er verbrachte die eine Hälfte der Woche mit seinen Kindern und die andere Hälfte mit meinen. Er musste ihr mit den Kindern helfen, sonst hätte sie sich ohne jede Atempause alleine um sie kümmern müssen, und das ist für Kinder nicht gut. So übernahm er sie zeitweise.

Er war offenbar sehr verlässlich.

Ja. Er hat nichts über sie erzählt, und ich wollte auch nichts erfahren. Ich kannte die Situation, aber an Hintergrundgeschichten war ich nicht interessiert, das war allein sein Leben.

Kommen wir noch einmal auf die Beziehung zwischen Stoner und Edith. Ich musste an Sokrates und Xanthippe denken. Stoner hat etwas derart Stoisches ...

Das war auch ein Teil von Johns Charakter. Er war im Krieg gewesen, der Krieg hatte ihn gezeichnet, und so war das eben. Er hat das einfach ertragen. Ich glaube nicht, dass er und Stoner identisch sind, aber sie sind einander sicher ähnlich. Er weiß, dass man nicht zu viel erwarten darf. Ich finde Stoner ziemlich düster ... 

Stoner scheint keinen direkten Kontakt zu seinen Bedürfnissen und zu sich selbst gehabt zu haben. Da gibt es diese Szene, in der er sich von Catherine trennt, der ersten Frau in seinem Leben, bei der Geist und Sinnlichkeit eine Einheit bilden. Er scheint unter der Trennung nicht einmal zu leiden. Er wirkt in dieser Situation, wie von sich selbst entfremdet. 

Ich habe den Roman erst kürzlich wieder gelesen. Schrecklich, als er sich von dieser Frau lossagt ... Was Stoner und John verbindet, ist der Vorsatz, nicht zu viel vom Leben zu verlangen. Von seiner Prosa hingegen verlangte er sehr viel.

Er hatte einen Lieblingssatz, den er gern zitierte, ich weiß nicht, wen er da zitierte. Einen amerikanischen Dichter [William Carlos Williams]. No ideas but things. Das gehört auch dazu – sich den Dingen in der Welt zuzuwenden. Stoner tut das, mit der Arbeit auf der Farm, seiner Lehrtätigkeit... da gibt es nicht viel zu lachen, es geht darum, mit seinem Leben klarzukommen. 

Hatte er Vertrauen in die Menschheit, in die Kraft der Vernunft, zum Beispiel?

Ich glaube, diese Frage hätte ihn nicht interessiert. Tatsächlich interessierten ihn abstrakte Themen nicht. Er wollte sich mit Konkretem beschäftigen. Ich denke nur an seine Kurse zu Dichtung des Zwanzigsten Jahrhunderts ... er liebte den Unterrichtsgegenstand, er liebte die Gedichte, wahrscheinlich auch die Dichter. Aber an philosophischen Themen hatte er keinerlei Interesse, überhaupt keins.

Und doch geht es in seinen Romanen immer wieder um die Frage: Was macht ein gutes Leben aus.

Nun schon, ja, aber ein gutes Leben ist etwas Greifbares, das ist nichts Philosophisches. Ein gutes Leben – das ist: Sie und ich, wie wir hier miteinander sprechen.

Er schrieb seine drei großen Romane in den Jahren zwischen 1960 und 1972: Kalter Krieg, Vietnam-Krieg, die Black-Panther-Bewegung. Hatte ein Schriftsteller für ihn auch eine politische oder soziale Funktion?

Nein, er ist sich selbst verpflichtet. Ich glaube nicht, dass er mit dem Schreiben eine direkte politische Verantwortung verband. Mit Ausnahme von ›Augustus‹. Da ging es ihm darum, eine Welt zu erfinden, die mit unserer Realität etwas gemein hat, er wollte dem Thema Krieg nachgehen. Und auch in ›Stoner‹, als der nicht in den Krieg zieht. Aber was direkte Verantwortung angeht, im Sinne von öffentlicher Meinungsäußerung, etwa im Fernsehen – nein überhaupt nicht.

In ›Augustus‹ heißt es einmal: Urteile sind leicht zu fällen, aber Wissen zu erlangen ist sehr schwer …

Ein typischer John-Satz. Zu werten, das war für ihn das Schlimmste.

1972 war ›Augustus‹ erschienen – dreizehn Jahre später, 1985, beendete er seine Dozententätigkeit. Was wurde nach 1972 aus seinem Schreiben?

Es ging ihm nicht gut, überhaupt nicht. Nach ›Augustus‹ fehlte ihm die Energie. Er begann einen neuen Roman, er ist wunderbar, es ist schade, dass er nicht fertig wurde. ›Sleep of Reason‹. Ein großartiger Titel.

Er bekam kaum Luft und brauchte ein Sauerstoffgerät. Einmal wurde ich sehr krank. Im Krankenhaus gab man mir eine Überlebenschance von fünfzig Prozent. Er wich nicht von meiner Seite. Acht oder zehn Tage lang war er Tag und Nacht bei mir. Dann ging es mir ein bisschen besser. Er saß neben meinem Bett auf einem Stuhl, eine ganze Woche lang, jede Minute. Er war hingebungsvoll, er hat mich gewaschen, er hat sich um mich gekümmert so gut er konnte.

Sie waren einander offenbar sehr nah.

Ja, sehr. Wenn´s hart auf hart kam, war er an meiner Seite. Er war ein guter Mann. Es macht mich froh, an ihn zu denken. 

Sie sagten, er habe nicht weiter geschrieben, weil es ihm selbst so schlecht ging. Lag das an seiner Lungenkrankheit oder daran, dass er trank.

An beidem.

Gab es denn ein Ereignis, das zu seiner Alkoholsucht führte?

Nein, in Texas wuchs man mit der Vorstellung heran, dass Trinken cool und ziemlich erwachsen sei, man fing in der High-School damit an, Bier zu trinken.

Geriet das Trinken dann irgendwann außer Kontrolle?

So würde ich das nicht sagen. Er war alkoholabhängig, er trank jeden Tag, aber es fiel nicht weiter auf, er trank Bier. Je länger der Abend dauerte, desto unangenehmer konnte er werden, aber es gab niemals ... und trotzdem stand er am nächsten Morgen wieder auf und kam seinen Pflichten nach. Aber am Ende eines Abends konnte es vorkommen, dass er verbal aggressiv wurde, gemein. Aber nur verbal, er wurde nie handgreiflich. Davor hütete er sich, denn er war körperlich nicht sehr groß, und er hätte es nicht riskiert, sich körperlich mit anderen anzulegen. Er war ziemlich klein, etwa 1,73, und wog auch nicht sehr viel.

Hat die Sucht sein Selbstwertgefühl beeinträchtigt?

Nein, er hatte ein sehr robustes Ego, sein Selbstwertgefühl war durch nichts zu erschüttern. Wissen Sie, seine Dämonen verfolgten ihn, er hatte Schlimmes durchgemacht, und ich habe ihn sein Bier trinken lassen. 

In ›Stoner‹ wird das Selbst an einer Stelle als Dschungel beschrieben, als Exil, in dem man lebt.

Nun, das stimmt, etwas anderes als unser Selbst haben wir nicht. Ich glaube, das war auch Johns Vorstellung. Das Selbst als Dschungel ... Was meinte er wohl damit - die Seele ist ein Dschungel? Mein Gott, undurchdringlich, erstickend, heiß. Mit dem Dschungel kannte er sich aus... die Seele ist ein Dschungel. Nach allem, was er erfahren hatte, war das am Ende ein Ort wie jeder andere.

Eigentlich wollte er für ›Stoner‹ als Motto eine Zeile von Ortega y Gasset verwenden, entschied sich dann aber dagegen. Sie lautet: Ein Held ist jemand, der sich selbst treu bleibt. 

Das trifft genau den Punkt. Denken Sie nur an alles, was einen daran hindert, sich treu zu bleiben. Die Lebensumstände, Johns Armut. Angesichts dessen kam John später im Leben seinen Vorstellungen so nahe wie kein anderer, den ich jemals kennengelernt habe. Er verfolgte hartnäckig sein Ziel. Und obwohl er mit dem Schreiben von Romanen erst anfangen konnte, als er schon über dreißig war, fing er immerhin damit an. Wie keinem anderen in meinem Leben ist es ihm gelungen, sich jeder Herausforderung zu stellen, beharrlich zu sein.

An Selbsterforschung war er jedoch nicht sehr interessiert, oder vielleicht hat er das mit seinen Romanen versucht. Er sprach nicht gern über sich. Er war witzig und lustig, immer mit etwas beschäftigt, er legte zum Beispiel seine Gurken ein, er war sehr aktiv. Aber eine ernsthafte Unterhaltung war so ziemlich das Letzte, was er wollte.

Wie ging er mit seiner fortschreitenden körperlichen Schwäche um? Mit Krankheit und Alter?

Das war hart, natürlich. Mir kommen immer noch die Tränen, wenn ich daran denke, als wir nach Fayetteville gezogen waren und er sagte, ich wünschte, ich könnte hier ein paar Tomaten ziehen. Und ich wollte schon losziehen und ihm ein paar Pflanzen besorgen, aber er hätte das körperlich nicht mehr geschafft. Ihm fehlte sein Garten. 

Sprach er über den Tod?

Er sagte nur, er habe nicht erwartet, so lange zu leben. Nach unserem Umzug nach Fayetteville lebte er noch acht Jahre, und das war viel mehr als er erhofft hatte. Ihm fehlte am Ende die Kraft zum Sprechen, aber wir gingen immerhin auf Partys.

Sie gingen noch auf Partys?

Ja, ich glaube, bei uns Hause fanden keine mehr statt, aber wir gingen zu den Partys von anderen. An eine der schönsten kann ich mich noch erinnern: Eine Schriftstellerin forderte uns abends um acht auf, uns auf Decken ins Gras zu legen und die Sterne anzuschauen. Sie servierte Champagner und Kartoffelchips. Es war verrückt und schön – all diese Erwachsenen auf ihren Decken. Und John fand es toll. – 

Es macht mir Freude über ihn zu reden. Ich glaube nicht, dass ich ihm gerecht geworden bin – er war ein sehr, sehr guter Mann.

Interview: Patricia Reimann, dtv, 2016

Übersetzung: Patricia Reimann und Sylvia Spatz

Der Verlag bedankt sich bei Nancy Williams für die freundliche Zustimmung zur Veröffentlichung des Fotos.