»Sich ›für‹ etwas zu entscheiden, bedeutet immer auch, sich ›gegen‹ zig Alternativen zu entscheiden.«

Kopf oder Bauch? Pizza oder Pasta? Kind oder Karriere? Viele Entscheidungen haben keine großen Auswirkungen auf unser Leben, doch bei einigen geht es ums Ganze. Jochen Mai benennt in ›Warum ich losging, um Milch zu kaufen, und mit dem Fahrrad nach Hause kam‹ die typischen Denkfehler, die wir begehen, die Zwickmühlen, in denen wir immer wieder feststecken – und zeigt, wie wir künftige Entscheidungen klüger treffen können.

Foto des Autors Jochen Mai und Buch Sich für etwas zu entscheiden, bedeutet immer auch sich gegen zig Alternativen zu entscheiden.

Herr Mai, Ihr Buch widmet sich dem großen Feld der Entscheidungen. Wie kam es bei Ihnen zur Entscheidung, ein Buch über Entscheidungen zu schreiben?
Ich habe mich gegen die anderen Buchideen entschieden, die ich noch hatte … (lacht) Ernsthaft: Ich glaube, das ist ein Megathema, das einfach jeden betrifft und mit dem wir uns alle regelmäßig schwertun – ich übrigens auch. Immer wieder fällt man auf falsche Alternativen oder sich selbst herein oder ist mit seiner Wahl hernach unzufrieden. Ich wollte das Ganze einfach mal systematisch und gründlich angehen, um mehr Klarheit zu schaffen – übrigens auch bei mir selbst. Schließlich treffen wir am Tag rund 20.000 Entscheidungen. Da wäre es doch schön, wenn ein paar davon treffsicher wären ...

Warum tun wir uns oft so schwer, Entscheidungen zu fällen?
Ich denke, das liegt an dem Dilemma, das jeder Entscheidung zugrunde liegt: Sich ›für‹ etwas zu entscheiden, bedeutet immer auch, sich ›gegen‹ zig Alternativen zu entscheiden – und das tun die meisten Menschen einfach sehr ungern. Da wir uns im Vorhinein selten wirklich sicher sein können, ob unsere Entscheidung die richtige ist, schieben wir sie auf und belasten uns so psychisch.

Gleich zu Beginn Ihres Buches stellen Sie zwei Systeme vor, die in unserem Kopf oft konkurrieren. Es ist ein bisschen so, als würde ein kleiner, emotionaler Homer Simpson mit einem kleinen, rationalen Mr Spock rangeln. Was geht da für ein Konflikt in uns vor?
(lacht) Mr Spock und Homer Simpson – der eine handelt immer zutiefst rational, der andere aus seinem – recht großen – Bauch heraus. Bei den vielen täglichen Entscheidungen können wir unmöglich alle rational abwägen oder jedes Mal einen Entscheidungsbaum zeichnen oder eine Pro-Contra-Liste aufstellen. Bei vielen Entscheidungen sagt unser (rationaler) Kopf: »Das ist zu teuer, zu gefährlich und eigentlich brauche ich es gar nicht.« Wohingegen unser emotionaler Bauch das genaue Gegenteil sagt. Die Kunst ist, beide wieder zu befreunden. Das Buch enthält dazu viele Tipps, aber auch ein paar Selbsttests, wie man seine Körpersignale bewusst in den Entscheidungsfindungsprozess einbezieht.

In dem Buch geben Sie den Lesern viele Ratschläge, wie wir uns besser entscheiden können. Können Sie uns einen guten Tipp geben?
Trinken Sie zwei Liter Wasser und warten Sie eine halbe Stunde (lacht). Wer dringend aufs Klo muss, trifft angeblich bessere Entscheidungen. In der Wissenschaft nennt sich dieses durchaus untersuchte Phänomen schlicht Harndrang-Effekt.

Aber im Ernst: Dahinter steckt letztlich etwas anderes. Wer lernt, einen Impuls zu kontrollieren – und sei es nur der des Wasserlassens –, dem fällt es auch leichter, andere Reize und Emotionen zu beherrschen. Die Kunst, bessere Entscheidungen zu treffen, besteht unter anderem darin, kurzfristigen Versuchungen zu widerstehen und sich bewusst zu machen, was die Motive hinter der Wahl sind.

Kann man zwischen verschiedenen Entscheidungstypen unterscheiden?
Grob lassen sich zwei Entscheidungstypen nachzeichnen: Der Maximierer und der Genügsame. Während der Maximierer viel Mühe in die Entscheidungsfindung steckt, vergleicht und auf Tests und Erfahrungsberichte vertraut, sucht der genügsame Entscheider nur so lange, bis er eine Option gefunden hat, die seinen Maßstäben entspricht.

Es hängt zwar vor allem von unserer Persönlichkeit ab, zu welchem der beiden Entscheidungstypen wir gehören. Beide haben ihre Vor- und Nachteile. Bei schwerwiegenden Entscheidungen, wie beispielsweise der Job- oder Partnerwahl, ist es aber klug, sich seinen Typus bewusst zu machen, kurz innezuhalten, und vielleicht sogar zu versuchen, ein bisschen mehr wie der andere Typ zu handeln.

In Ihrem Blog karrierebibel.de setzten Sie sich intensiv mit allem rund um das Arbeitsleben auseinander. Warum fällt es uns so schwer, Entscheidungen für unsere Karriere zu treffen?
Entscheidungen, besonders im Berufsleben, implizieren oft etwas Endgültiges. Nach dem Motto: »Wenn ich mich einmal so entschieden habe, gibt es keinen Weg mehr zurück! Keine Chance auf Korrektur!« Das ist ein Irrglaube, der zu ganz erheblichen Blockaden führt. Die allermeisten Karrieren verlaufen eben nicht linear, sondern im Zick-Zack-Kurs. Dies müssen wir uns bewusst machen. Unsere beruflichen Wege führen uns zu immer neuen Kreuzungen, von denen aus man auch wieder eine neue Richtung einschlagen oder zurückgehen kann, falls sich der bisherige Weg als Sackgasse herausstellt.

Ich bin ehrlich: In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Zum einen wünsche ich mir – etwa beim Lebensmitteleinkauf – ein großes Sortiment. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass mich die schier unendliche Anzahl an Alternativen überfordert. Ich bleibe dann doch bei dem Produkt, das ich kenne. Wie lässt sich dieses Paradox erklären?
Eine große Auswahl fasziniert und hat eine enorme Anziehungskraft. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unter den zur Verfügung stehenden Optionen eine finden, die uns gefällt, steigt mit der Anzahl. Zugleich erfordert die Entscheidung aber mehr Mühe und Zeit, weil die Unterschiede gegeneinander abgewogen werden müssen. Das ist der Punkt, an dem sich viele verzetteln: Sie sehen sprichwörtlich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Hier kommt wieder das oben dargestellte Grundproblem der Entscheidung. Eine Wahl für ein Produkt ist eine Nicht-Wahl aller anderen. Und das fällt uns schwer. Im Umkehrschluss gehen wir dann häufig lieber auf Nummer sicher und bleiben bei dem Eis, bei der Zahnpasta oder bei dem Müsli, welches wir bereits kennen.

Bei einer Diskussion über Entscheidungsfreude kommt man an der Geschlechterdebatte nicht vorbei. Nun mal Hand aufs Herz, Herr Mai, wer tut sich bei der Entscheidungsfindung schwerer – Männer oder Frauen?
Wühlt man mal ganz tief in der Schublade der Geschlechterklischees, ließen sich für beide Geschlechter Situationen vorstellen, in denen sie es schwierig finden, eine Entscheidung zu treffen: die Wahl des richtigen Autos führt bei Männern regelmäßig zum Entscheidungsnotstand, bei Frauen sollen das die Schuhe sein. Fernab solcher Klischees ist sich die Wissenschaft inzwischen aber einig: Es sind tatsachlich die Frauen, die es schwieriger finden, Entscheidungen zu fällen. Bevor jetzt aber alle Männer in die Hände klatschen und sich selbst bejubeln: Es sind aber auch die Frauen, die am Ende die besseren Entscheidungen treffen. Die liegt daran, dass es Frauen schwerer fällt, Optionen auszuschließen. Männer werden dafür von ihrem Gehirn belohnt, Frauen aber nicht. Resultat ist ein zeitintensiverer und anstrengenderer weiblicher Entscheidungsprozess – aber mit einem oftmals besseren Ergebnis.

Das Interview führte Linus Schubert / dtv